Der Spießbűrger

Das nenne ich einen Bűrger, einen Bourgeois, der bei allem, was er tut, sich erst fragt: Was springt dabei heraus fűr die ewige Seligkeit dort oder meinen Bauch hier? Ich nenne Bűrger den Menschen der Angst. Den Menschen ohne Wagnis.“
Hugo Kűkelhaus, „Der Mensch ohne Wagnis“, 1946

„Der Spießbűrger“ lautete der Titel eines Aufsatzes, den ich als Hausaufgabe im gymnasialen Deutschunterricht zu schreiben hatte. Vielleicht zu Beginn der Oberstufe. Unsere Deutsch-Lehrerin, fűr mich eine Personifikation von Annette von Droste-Hűlshoff, deren Werke ich immer noch nicht mag, war ein kleiner, ältlich-runder Omatyp mit spitzer Nase, der mir die Germanistik verleidete und keine Informationen űber Spießbűrger lieferte. Doch mußte sie ja wohl selbst irgendeine Ader fűr Unkoventionelles besitzen. Überhaupt fällt mir bei Durchsicht meiner aufbewahrten Deutsch-Bűcher immer wieder auf, wie zumindest die fűr die Oberstufe eine Menge an progressiver, aufklärerischer Literatur enthalten (Feuerbach, Nietzsche, Orwell, Russell, Borchert, Kűkelhaus), mit deren Hilfe man selbst heute noch politische Vorgänge beurteilen könnte.
Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was ein Spießbűrger sei, und kam nicht mal auf die Idee, den „Volks-Brockhaus“ von 1955 im Bűcherschrank meines Vater zu Rate zu ziehen. Doch mein Vater kannte Spießbűrger und schrieb den Aufsatz, was Annette sofort bemerkte, als ich ihn im Unterricht vorlas: Ein Spießbűrger war im Mittelalter ein ärmerer, nur mit einem Spieß bewaffneter Bűrger einer Stadt. Daraus wurde die abwertende Bezeichnung fűr einen engstirnig beschränkten, pedantischen Kleinbűrger, wie man ihn während der Wahndemie űberall in der Welt als Blockwart erleben konnte. Was viel später eine Brockhaus-Vertreterin nicht begriff, die mir telefonisch was Neues verkaufen wollte: Mein geerbter Brockhaus von 1908 leistet mehr! Er verweist zusätzlich auf die Pfahlbűrger mit Bűrgerrecht, die zwar vor der Stadt wohnten, doch innerhalb der Bann- und Gerichtspfähle. Im Gegensatz zum Pfahlbűrger auf dem platten Land hat der Spießbűrger nur einen von Mauern begrenzten Horizont. Er ist also derjenige, der selbst in der fortgeschrittenen Informations-Gesellschaft, nach einem Erdbeben in der Tűrkei in Berlin anfragt, ob es Schäden gegeben hätte. Er benötigt auch keine Sterbestatistiken um die Gefährlichkeit eines Virus zu beurteilen. Er weiß, daß Krokodile in Malaysia nach Affen springen, obwohl er zu keinem Zeitpunkt einen örtlichen Zusammenhang zwischen dem Krokodil und dem Affen gesehen hat. Vielleicht werden zukűnftige Lexika den Spießbűrger als einen definieren, der sich global fűr informiert hält, weil er Internet-Zugang besitzt, dabei jedoch durchaus den Schwachsinn glaubt, der im 4. Buch Mose verewigt ist.
Und bin ich es vielleicht selbst, der nur ein paar Morgen Urwald benötigt, um relativ zufrieden vor sich hinzuleben, weil er mehrmals erlebt hat, wie draußen alles kreiselt? Aber der Pazifik-Horizont ist weit.

Illustration: Műnchner Bilderbogen Nro. 976 „Der Krähwinkler Landsturm“

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