Napoleon in Berlin

Die Schwierigkeit bei der Bewertung geschichtlicher Vorgänge besteht darin, daß man meist einen bestimmten Punkt setzt, und von da aus die Ereignisse untersucht. Bekannt ist das Foto von Hitler vor dem Eiffel-Turm in Paris. Weniger die Darstellung „Napoleons Einzug in Berlin“. Hegel hielt den solange fűr fortschrittlich, bis ihm französische Soldaten die Wohnung plűnderten.
Als hilfreich hat sich mein „Historischer Schulatlas“ von Putzger (1954) erhalten, der es sogar bis zum Äquator schaffte. Zwar enthält er nur wenig űber die Verhältnisse der Juden, um so mehr jedoch űber die Machenschaften der Nationen, die sich űber D moralisch erhaben fűhlten. Etwa die Niederländer, die u.a. mal Indonesien und West-Papua ausbeuteten. Sucht man nach Israel, so zeigt die erste Karte nur das alte Ägyptische Reich (1298-1232). „Hebraei“ erscheinen mit Fragezeichen. Die Farbe Grűn wird dabei fűr verschiedene semitische Völker (Assyrer, Syrer, Araber, Phöniker und Hebräer) benutzt. Um 670 v. Chr. folgt dort das Assyrische Reich. Um 500 ist das Gebiet persisch rot. Danach im Besitz Alexander des Großen, und beim Zerfall seines Imperiums von Diadochen zersplittert. Schließlich werden Samaria und Judäa Teil der römischen Provinz Syrien – mit dem Zusatz: „Alle Grenzen sind als unsicher anzusehen.“ Von einem traditionell nur Juden gehörendem Gebiet keine Spur.
Das sieht im Falle Deutschlands ganz anders aus: Noch im 13. Jahrhundert hat das Königreich Polen keinen Zugang zur Ostsee, sondern da existieren Pommern und Preußen. Erst im Zuge der Kämpfe mit dem Osmanischen Reich vom 15.-17. Jahrhundert kommt die Karte so in Bewegung, daß Polen zumindest farblich einen Korridor bis Danzig erringt (Pomerellen in Personal-Union mit Polen). Die Karte von 1740 verdeutlicht auch Polens östlichen Expansions-Kurs nach Littauen und Weißrußland. Der ist 1789 offensichtlich beendet, denn die Karte zeigt den Riegel des Königreichs Preußen vor der Ostsee.
1866 quetschen die Russen Polen ein und zeigen ihre westlichen Gelűste. Bis 1914 existiert Polen gar nicht mehr als unabhängiger Staat, was der Versailler Vertrag dann mit dem Polnischen Korridor auf Kosten Deutschlands korrigiert. Dieser Korridor wird einer der Grűnde fűr den 2. Weltkrieg. Die Karte von 1946 bezeichnet die von Russen und Polen gestohlenen deutschen Gebiete als unter „Verwaltung“ bestehend. Das Land, das man den Juden 1948 geschenkt hat, jedoch nicht. Die Vertreibung der Palästinenser, die von der Vertreibung der Deutschen wohl quantitativ űbertroffen wurde, wird eher als Fußnote von Geschichte behandelt. Auch wenn in großen Städten des Ruhrgebiets während der alliierten Bombenangriffe 50% der Bevölkerung umkamen, habe ich noch keine parallele Beurteilung zu dem gelesen, was sich gerade in Gaza abspielt. Deutsche und Japaner waren einfach insgesamt vernichtenswert. Ebenso wenig bekannt ist das imperialistische Gehabe von Engländern und Franzosen im Nahen Osten, wie es die Geschichte von „Lawrence of Arabia“ veranschaulicht, der die Tűrken aus der Region jagte.
Kurz und schlecht: Wer hier zu eindeutigen Urteilen gelangt, besitzt vielleicht andere Karten. Und daß Völkern ihr Siedlungsgebiet abhanden kommt, soll sogar nordamerikanischen Indianern passiert sein. Wozu dann die Nachricht paßt, daß die von mir bewunderte Folksängerin Buffy Sainte-Marie gar keine Indianerin ist, sondern Pretendianerin englisch-italienischer Abstammung. Was fűr ein irres Gemenge aus Wahrheit und Wirklichkeit!

Der Spießbűrger

Das nenne ich einen Bűrger, einen Bourgeois, der bei allem, was er tut, sich erst fragt: Was springt dabei heraus fűr die ewige Seligkeit dort oder meinen Bauch hier? Ich nenne Bűrger den Menschen der Angst. Den Menschen ohne Wagnis.“
Hugo Kűkelhaus, „Der Mensch ohne Wagnis“, 1946

„Der Spießbűrger“ lautete der Titel eines Aufsatzes, den ich als Hausaufgabe im gymnasialen Deutschunterricht zu schreiben hatte. Vielleicht zu Beginn der Oberstufe. Unsere Deutsch-Lehrerin, fűr mich eine Personifikation von Annette von Droste-Hűlshoff, deren Werke ich immer noch nicht mag, war ein kleiner, ältlich-runder Omatyp mit spitzer Nase, der mir die Germanistik verleidete und keine Informationen űber Spießbűrger lieferte. Doch mußte sie ja wohl selbst irgendeine Ader fűr Unkoventionelles besitzen. Überhaupt fällt mir bei Durchsicht meiner aufbewahrten Deutsch-Bűcher immer wieder auf, wie zumindest die fűr die Oberstufe eine Menge an progressiver, aufklärerischer Literatur enthalten (Feuerbach, Nietzsche, Orwell, Russell, Borchert, Kűkelhaus), mit deren Hilfe man selbst heute noch politische Vorgänge beurteilen könnte.
Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was ein Spießbűrger sei, und kam nicht mal auf die Idee, den „Volks-Brockhaus“ von 1955 im Bűcherschrank meines Vater zu Rate zu ziehen. Doch mein Vater kannte Spießbűrger und schrieb den Aufsatz, was Annette sofort bemerkte, als ich ihn im Unterricht vorlas: Ein Spießbűrger war im Mittelalter ein ärmerer, nur mit einem Spieß bewaffneter Bűrger einer Stadt. Daraus wurde die abwertende Bezeichnung fűr einen engstirnig beschränkten, pedantischen Kleinbűrger, wie man ihn während der Wahndemie űberall in der Welt als Blockwart erleben konnte. Was viel später eine Brockhaus-Vertreterin nicht begriff, die mir telefonisch was Neues verkaufen wollte: Mein geerbter Brockhaus von 1908 leistet mehr! Er verweist zusätzlich auf die Pfahlbűrger mit Bűrgerrecht, die zwar vor der Stadt wohnten, doch innerhalb der Bann- und Gerichtspfähle. Im Gegensatz zum Pfahlbűrger auf dem platten Land hat der Spießbűrger nur einen von Mauern begrenzten Horizont. Er ist also derjenige, der selbst in der fortgeschrittenen Informations-Gesellschaft, nach einem Erdbeben in der Tűrkei in Berlin anfragt, ob es Schäden gegeben hätte. Er benötigt auch keine Sterbestatistiken um die Gefährlichkeit eines Virus zu beurteilen. Er weiß, daß Krokodile in Malaysia nach Affen springen, obwohl er zu keinem Zeitpunkt einen örtlichen Zusammenhang zwischen dem Krokodil und dem Affen gesehen hat. Vielleicht werden zukűnftige Lexika den Spießbűrger als einen definieren, der sich global fűr informiert hält, weil er Internet-Zugang besitzt, dabei jedoch durchaus den Schwachsinn glaubt, der im 4. Buch Mose verewigt ist.
Und bin ich es vielleicht selbst, der nur ein paar Morgen Urwald benötigt, um relativ zufrieden vor sich hinzuleben, weil er mehrmals erlebt hat, wie draußen alles kreiselt? Aber der Pazifik-Horizont ist weit.

Illustration: Műnchner Bilderbogen Nro. 976 „Der Krähwinkler Landsturm“

Innenlesen

Er űberhöhte und färbte auch Ursels Leben, auch bei ihr sorgte er fűr weniger Langeweile, und an Ursel dachte er, mit dem Eindruck von sich als einem Verräter, wenn er mit Isa etwas Verwegenheit űbte: dann irgendwo zwischen Hildesheim und Braunschweig.“
Gabriele Wohmann (1932-2015), „Westblick“

Hans Wollschläger charakterisierte die Wohman so: „Mein Psychoanalytiker hat gesagt, ich solle mehr schreiben.“ Immerhin haben ihre gesammelten Erzählungen aus 30 Jahren es bis zum Äquator geschafft – und jetzt in den Papierkorb. Wer so gut űber Stadtneurotiker schreibt, muß selber eine gewesen sein. Fast jede Kurzgeschichte mit Knalleffekt im letzten Absatz. Billigste Krimi-Methodik. Menschliche Beziehungs-Probleme, die ich schon vor 50 Jahren als sinnlos hinter mir ließ. Beschreibungen von Menschen, die nicht körperlich arbeiten. Das scheint mir űberhaupt ein Grundproblem unserer Zeit zu sein. Dieses vorgefertigte, digitalisierte Leben mit perfektem Unterhaltungs-Angebot und Ad hoc-Kommunikation. Und wenn eine Frau das Innenleben von Männern darstellt: Woher kennt sie das?